Freitag, September 30, 2005

gipsgeschichten IV

Heute Morgen in der Straßenbahn. Ich sitze auf dem Behindertenplatz. Neben mir eine alte Frau mit Gehstock. Ein dicker Mann mit schwerem Gang setzt sich auf den freien Platz mir gegenüber. „Seien Sie froh, dass das bei Ihnen nur auf Zeit ist!“, sagt er mit Blick auf meinen Gips und die Krücken. Ich schaue ihn an. „Ich bin froh“, sage ich.


Letztes Wochenende. Das perfekte Glück: Nach zwei Wochen im Bett das erste Mal ins Freie gehen. Einfach nur in der Sonne sitzen. Selten so wunschlos gewesen.

Mittwoch, September 28, 2005

die segnungen der multimedialen gesellschaft

Ich habe ein Problem mit Wiederholungen. Vor allem hasse ich es, mich selbst zu wiederholen.
Seit ich meine Zeit weitgehend mit hochgelegtem Gipsbein verbringen muss, pfeife ich auf meine Elektrosmogparanoia und habe neben einem mindestens fünf Meter hohem Bücherstapel (nicht, dass ich tatsächlich lesen würde – ich staple nur hoch) auch Fernseher, Musikanlage, Notebook und Telefon in Griff bzw. Fernbedienungsreichweite. Vermutlich werde ich mir demnächst das andere Bein schrotten, weil ich über den Kabelsalat stolpere. Andererseits stelle ich fest, dass ich ein Faible für eine kompakte Alltagsorganisation habe (wenn das kein gelungener Euphemismus für Faulheit ist!) und überlege ernsthaft, ob ich das nicht auch in Zukunft so beibehalten will. (Ich frage mich, warum ich meine Arbeit bisher am Schreibtisch erledigt habe.) Noch praktischer ist es nur im Campingbus, wo ich den Kaffee vom Bett aus aufsetzen kann. Aber auch das ließe sich hier noch unterbringen.
Das einzige, was mir zu meinem Geräteglück wirklich hier fehlt, ist der Druckeranschluss. Aber auch das sollte im Zeitalter von Multimedia kein Problem sein: Ich werde mir einfach eine Druckerei ausgoogeln und ihnen per Mail einen Auftrag erteilen:
1000 Handzettel (sollte zwei Wochen reichen) mit einem ausführlichen Unfallbericht. Den kann ich dann verteilen. An alle Passanten, denen ich beim Humpeln begegne, an jeden Sitznachbarn in der Straßenbahn, an alle Taxifahrer, an alle Verkäuferinnen, an alle Nachbarn, an alle Bekannten. Auf der Rückseite soll die Druckerei freie Fläche für eigene Krankengeschichten lassen. Ich halte das für eine gute Prophylaxe. Könnte unangenehme Ereignisse wie Nervenzusammenbruch oder Mord verhindern. Ich habe offensichtlich ein Problem mit Wiederholungen. Aber das schrieb ich bereits.

Dienstag, September 27, 2005

die frau auf der flasche mit der frau auf der flasche mit der frau auf der flasche mit der frau ...

Fiel mir grad wieder ein. Ich weiß nur nicht mehr, welches Getränk das war. Als ich Kind war, hatten wir daheim irgendein Flaschengetränk, auf dem eine Frau abgebildet war, die eine Flasche genau dieses Getränks in der Hand hielt, auf der sie selbst mit der Flasche zu sehen war, und auf der Flasche in der Flasche in der Flasche war wieder diese Frau, die eine Flasche hielt, auf der die Frau mit der Flasche ... also darüber nachzudenken hat mich damals schon halb wahnsinnig gemacht. Und meine Augen waren natürlich nicht scharf genug, um diese unendliche Geschichte weit zu verfolgen, aber allein schon der Gedanke!
So was Ähnliches hab ich grad im Netz gefunden. Läuft seit zehn Minuten im anderen Fenster und nimmt kein Ende. (Ich schaue sicherheitshalber jede Minute mal nach) Gesucht hab ich eigentlich was ganz anderes, Informationen über Nasen nämlich. Aber das ist ein anderes Thema.
Hab jetzt auch keine Zeit, ich muss noch eine Weile in die Unendlichkeit eintauchen, zum Mann mit dem Bild mit dem Mann mit dem Bild mit dem Mann mit dem Bild mit dem Mann mit dem Bild ...

gipsgeschichten III

Der junge Assistenzarzt kniet vor mir. Schlank, groß, sehr attraktiv. Behutsam fasst er meinen Fuß und betrachtet ihn eingehend. „Sieht völlig reizlos aus", sagt er.
Ich ziehe einen Schmollmund. Schlechtes Drehbuch. Falscher Text.

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Die Krankenkasse will den Unfallhergang und den Unfallverursacher wissen. „Ich bekam beim Tanzen einen Tritt von hinten und die Achillessehne riss. In diesem Moment sah ich zwar Sternchen, nicht aber den Unfallverursacher.“

(Solche Flapsigkeit kann ich mir getrost erlauben. Schließlich hieß es im Anschreiben: „Wir versichern Ihnen: Durch das Ausfüllen dieses Formulars entstehen Ihnen keine Nachteile.“)

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Das erste Mal nach zwei Wochen Gipslägrigkeit wieder richtig unter Menschen gegangen. Nach einem kleinen Vereinsfest kenne ich zwar nicht alle Namen, aber alle Krankengeschichten: drei Knieverletzungen, zwei Bänderrisse, ein Handgelenk, zwei gebrochene Füße. Auf dem Rückweg bitte ich HP, mich in den kommenden Wochen und Monaten daran zu erinnern, dass ich möglichst nicht zwanghaft jedem Gipsträger von meinem Sehnenriss erzähle.

Samstag, September 24, 2005

lebe wild und gefährlich



Fast philosophisch/lebensanalogisch anmutend - gesehen am westlichsten Punkt Frankreichs - la Pointe du Raz, Finistère (Weltenende), Bretagne.

Freitag, September 23, 2005

eine frage des standpunktes

G. kommt aus der Redaktion. "Sieht so aus, als käme ich doch nicht in den Genuss eines Interviews mit den Backstreet Boys."
"Ach, sieh's doch so: Die Backstreet Boys kommen nicht in den Genuss, von dir interviewt zu werden."

(Selber schuld, Jungs!)

Donnerstag, September 22, 2005

vom nicht-kennen II

"Lass es uns langsam angehen!", bitte ich ihn. "Wir kennen uns doch kaum!"
Er nickt, eine eher wegwischende Geste, zu schnell, als dass ich mich ernst genommen fühlen könnte.
"Aber ich fühle mich sehr wohl mit dir. Du doch auch?!", hält er mir entgegen.
"Ja", antworte ich. "Ich fühle mich auch sehr wohl mit mir."
Er lacht.
Er kennt mich nicht. Selten meine ich mich so ernst, als wenn ich scherze.

(kleine Anmerkung: In diesem Fall trat der Frisch-Effekt nicht ein.)

Mittwoch, September 21, 2005

vom nicht-kennen

immer, wenn ich eine neue bekanntschaft mache, fällt mir max frisch ein, ein satz aus dem gantenbein: "einander nicht zu kennen, in einem maß, das alles kennenkönnen übersteigt, war schön."

Dienstag, September 20, 2005

vom kennen-gelernt-werden-wollen

Das virtuelle Leben ist ja auch oft ein gar seltsames - oder frei nach down by law: it's a strange and beautiful world (wide web).
Zum einen bin ich jetzt tatsächlich in Bloggerland angekommen: Nach hundertmaligem Aufrufen des Sitemeters, nur um festzustellen, dass ich außer einem verirrten Polen so ziemlich die einzige Besucherin meines Weblogs bin (ich hab aber auch diese autistische Ader, insofern konnte ich mich immerhin über meine eigenen Besuche freuen), gab sich gestern DIE Lisa9 die Ehre, deren Weblog mit seinen genialen Ideen und Cartoons mit sofortiger Wirkung süchtig macht. Und sie hat mir sogar gleich zwei Kommentare hinterlassen! Irgendwie aufregend. Eine ganz neue Welt.

Die Netzwelt hat mir außerdem einen E-Mail-Austausch mit einer Unbekannten beschert, bei der ich mich eigentlich nur ganz nüchtern für den gipsbedingt verzögerten Versand eines Buches entschuldigt habe. Mittlerweile kennt sie meine Krankengeschichte und hat die Liste meiner Lieblingsbücher. "Ich hoffe du bekommst gerne E-Mails", entschuldigt sie sich für das über das geschäftliche Hinausgehende."Ich freu mich immer neue Menschen kennen zu lernen, aber manche wollen nicht kennen gelernt werden!"
Die ungewohnte passive Form von "kennen lernen" in diesem traurig-trotzigen Satz hat mich richtig berührt.
(das Rumliegen im Bett macht offensichtlich nicht nur die Birne etwas weich.)

Montag, September 19, 2005

gipsgeschichten II

vorhin telefonat mit der krankenkassenkundenbetreuerin. ziemlich
überflüssige aktion, by the way, natürlich zahlt mir niemand die
taxifahrten ins krankenhaus. nachdem wir das geklärt haben, fragt sie:
"kann ich sonst noch was für Sie tun?"
"danke", sage ich und muss lachen. "danke, ich werde gut versorgt."

gipsgeschichten I

ich werde wieder übermütig und beginne, meinen häuslichen pflegern auf den keks zu gehen. „weißt du, was ich dir wünsche?“, wurde ich vorhin gefragt.

„dass es dich an der ferse juckt!“

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ich frage mich so langsam, ob hunde einen sehnenabriss simulieren können. gestern morgen konnte dschampa kaum aufstehen und musste zum pinkeln die treppen heruntergetragen werden. beim letzten gassigang in der nacht davor war sie noch quietschfidel gewesen. sie lag also gestern den ganzen tag neben meinem krankenlager, ließ sich von allen bemitleiden und reagierte nicht mal mehr auf leinengerassel. nachmittags kam sie allerdings von der kurzen pinkelrunde mit g. zurück und stürmte zur begrüßung an mein bett. „schwester dschampa, können Sie wieder laufen?“, fragte ich sie begeistert. dschampa zog daraufhin den schwanz ein, wandte sich von mir ab und humpelte äußerst schwerfällig in die küche zurück.

Sonntag, September 18, 2005

freiburg lacht sich tot

Ich bin ja nicht die einzige, die ihre Zeit mit möglichst unnützen Überlegungen und Tätigkeiten verbringt.
Das Männermagazin Men's Health hat offensichtlich auch nicht besseres zu tun, als zum Beispiel die tägliche Lachdauer von Menschen in 50 deutschen Städten zu ermitteln. Das Ergebnis hat mich allerdings schon überrascht: Laut Stadtkurier geht es hier im Süden recht lustig zu: "Freiburg landete mit einer durchschnittlichen täglichen Lachdauer von 8 Stunden 40 Minuten auf Platz 17.", heißt es auf der Titelseite in dieser Woche. Wenn jetzt einer denkt, ich sei in dieser Stadt von pausenlosen Gelächter umgeben: Fehlanzeige. Einigen hatte ich es bereits unterstellt, jetzt erhärtet sich meine Vermutung: Meine Mitbürgerinnen und Mitbürger gehen zum Lachen in den Keller. Und irgendwer übernimmt statistisch gesehen mein Lachpensum. Ihm oder ihr sei an dieser Stelle gedankt. Mir täte sicherlich nach 8 Stunden der Bauch weh.

Freitag, September 16, 2005

gummibärchen orakeln - alles wird gut

seit samstag nacht bin ich halbinvalidin. ein tritt - beim tanzen (!) - gegen den hacken und ab war die achillessehne. glatt durch. am montag op, danach ein tag im schmerzmittelrausch.
jetzt muss ich mein bett hüten, das bein hochlegen und hätte endlich unendlich viel zeit zum lesen, musik hören, schreiben, lernen, zeichnen ... für all das sinnvolle, für das mir die zeit immer zu knapp ist.

und was mache ich stattdessen?
sinnlos rumsurfen ...
gummibärchenorakel, darth-vader-gedankenlesen und animierte bildchen malen mit dem touchpad. immer auf der suche nach der größtmöglichen sinnlosigkeit.
immerhin sind die gummibärchen der ansicht, dass bald alles besser wird mit mir.

Dienstag, September 06, 2005

Im Gespräch über Tugend und Moral: "Ich bin mir keiner Unschuld bewusst."

Montag, September 05, 2005

sandmann ist sprachästhet

Für die zugegebenermaßen bemühte Überschrift von gestern - die schräge Synthese aus 'aller Anfang ist schwer' und 'jedem Anfang wohnt ein Zauber inne' - habe ich sofort die Rechnung vom Sandmann bekommen:
Die erste Leserin meines Weblog war eine Zauberin, die mir tolle Kunststücke vorführen wollte und dann resigniert feststellte, dass ich zauberresistent bin. Doch kurz danach lade ich mir an einem wunderbaren Buffet den Teller voll und - wutsch - noch bevor ich den ersten Bissen probieren kann, ist der Teller leer. Hokus pokus verschwindibus. Ich habe ganz selten Alpträume. Das war einer von der ganz schlimmen Sorte! Bin schweißgebadet und hungrig aufgewacht.

Im wachen Leben ganz andere Probleme: Jetzt habe ich endlich ein Weblog und damit auch eine paradoxe Entscheidung zu treffen:
Ich kann allen meinen Freunden und Bekannten die URL geben, dann traue ich mich aber sicher nichts mehr zu schreiben. (Oder ich habe danach keine Freunde und Bekannten mehr.)
Oder ich gebe niemandem die Webadresse. Dann habe ich aber auch keine Leser ...

aller anfang ist schwerer zauber


na, die Zitronen hätten wir schon mal ;-)